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Brief von Ferdinand
Lindemann
an Friedrich Prym: 20. Februar 1891
Antw. 12. März 1891 [Anmerkung Prym]
Kgsbg i.
P.
20. Feb. 91
Tragheimer
Kirchenstr. 6[?]
Hochgeehrter
Herr College.
Beim
Eintreffen Ihres gestrigen Telegramms war ich bis gegen 8 durch Besuch in
Anspruch genommen und musste dann in eine Gesellschaft; heute war
Staatsexamen,
und so komme ich erst gegen Abend dazu, die gewünschte
Auskunft ausführlicher
zu geben.
1)
Was die erste Frage angeht, so kann eine klare Antwort
natürlich nur bei
völliger Kenntnis der in Betracht kommenden
Verhältnisse gegeben werden; und
eine solche geht mir ab, wenngleich ich vermuthe, dass es sich um die
endliche
Bewilligung der schon so lange geplanten Professur für
Geometrie etc. handelt.
Für
mich ist natürlich ein grosser Zug nach dem Westen vorhanden;
man wird hier nie
das Gefühl los, völlig auf dem Isolierschemel zu
sitzen; von jedem Verkehr mit
Fachgenossen und jeder äusseren Anregung abgeschlossen lebt
man beschaulich
dahin. So lange ich unverheiratet meine Beweglichkeit bewahrt hatte,
habe ich
es nicht so empfunden; aber jetzt, wo ich Königsberg nur
selten verlassen kann
(seit 3 Jahren im Sommer zum ersten Male) wirkt das lähmend
und ermüdend.
Vorzüglich nach einem Winter, wie der letzte sehnt man sich in
eine
freundlichere Gegend zurück. Auf der anderen Seite ist meine
amtliche
Thätigkeit hier die denkbar angenehmste, war es wenigstens in
den ersten Jahren
meines Hierseins. Vor 20 bis 30 Zuhörern liest man doch anders
als vor 5 bis 6,
wie in Freiburg; man hat doch mehr das Gefühl der
Befriedigung. Die schönen
Zeiten sind hier leider vorbei; jetzt habe ich in einer Vorlesung 4, in
einer
anderen 6 Zuhörer! und in absehbarer Zeit ist keine Besserung
zu erwarten. In
hiesiger Provinz sollen so viel Candidaten (die das Staats-Examen in
Mathematik bestanden) vorhanden sein, dass für 14 Jahre
vorgesorgt ist; in der That sind
tüchtige Menschen, die ich vor 7 Jahren prüfte, noch
nicht angestellt! Da kann
man sich nicht wundern, dass die Zahl der Mathematiker so stark
abnimmt. Diese
Seite der Königsberger Annehmlichkeiten wäre also
nicht mehr so in's Gewicht
fallend. Wie aber steht es damit in Würzburg? Auf der anderen
ist es
entsetzlich, von aller Kultur so weit entfernt zu existieren, vor allen
Dingen
so weit reisen zu müssen, bis wir das von meiner Frau und mir
gleich intensiv
geliebte Gebirge erreichen. Hier fehlt es eben an jeder Erholung, und
der
Strand bietet nur schwachen Ersatz. Sie
sehen, dass Vortheile und Nachtheile verschieden vertheilt sind; ein
Vortheil
für Königsberg ist jedenfalls die
liebenswürdige Art des Verkehrs in allen
Gesellschaftskreisen, die ich nicht ohne undankbar zu sein,
unerwähnt lassen
darf; so wohl unter den Collegen und deren Familien als im Verkehre mit
anderen
herrscht ein freier angenehmer Ton, wie man ihn selten finden soll.
Aber das
kann ja nie entscheidend sein!
Eine
Hauptfrage ist aber natürlich, wie viele Geldmittel
für die Würzburger
Professur verfügbar sind. Wie ich hier stehe telegraphierte
ich schon. Meine
Einnahmen sind
1)
Gehalt (incl. Wohnungsgeld) |
6460 |
2)
Remuneration als Director
des math.
Seminars |
150 |
3) Remuneration
als Mitglied der wissenschaftlichen
Prüfungs-Commission für Ost- und West-Preussen
|
350 |
Summa |
6960 |
Dazu
kommen noch etwa 250 M an Colleggeldern und Gebühren. Erstere
waren früher (d. h.
vor 7 oder 6 Jahren) um etwa 600 M höher; auch die
Facultätsgebühren waren
höher. Das sind jetzt vergangene Zeiten.
2)
Schur's Arbeiten sind, glaube ich solider, wenn auch oft weniger
inhaltsreich;
Meyer ist beweglicher in seinen Gedanken. Doch glaube ich, dass
Schur
letzte
Arbeiten über Gruppentheorie von sehr wesentlicher Bedeutung
sind, während
seine früheren rein geometrischen Arbeiten etwas trocken und
schematisch
ausfielen. Er hat mich hier voriges Jahr besucht; und ich traf ihn
einmal vor 5
Jahren in Grindelwald; Persönlichkeit sehr angenehm; Meyer ist
viel lebhafter,
vielleicht etwas flüchtig, aber eifrig und strebsam; er
besuchte mich vor etwa
9 Jahren in Freiburg.
3) Hilbert ist mir in jeder
Beziehung ein äusserst angenehmer
College. Er trägt
sehr gut vor (Wir haben
jeden Dienstag ein mathematisch-physikalisches Kränzchen, wo
ich ihm oft mit
Vergnügen zugehört habe; auch die Studenten
hören ihn gern.) Wie alle
Königsberger ist er sehr stark im Disputieren; oft vielleicht
in seinem Eifer
zu weit gehend bei Vertheidigung einer
vermeindlich richtigen Ansicht. Er zeigt gleiches Interesse
für alle Zweige der
Mathematik; hat hier, in Heidelberg (bei Fuchs), wieder hier (bei mir);
in
Leipzig (bei Klein)und in
Paris studiert. Sein Vater ist hier Amtsrichter, christlicher Abkunft.
Ich
erwähne letzteres, weil sein Vornahme David oft zu anderer
Annahme verleitet,
und weil dies für Würzburg
wesentlich mit bestimmend sein mag. Eigenthümlich ist ihm der
Hang zu möglichst
abstracten Untersuchungen möglichst allgemeinen Charakters, er
hält sich ungern
mit speciellen Problemen auf. Dass er darin nicht Unrecht hat, beweist
seine erfolgreiche
Thätigkeit in der höheren Algebra. Wenn man den Werth
einer Leistung darnach
beurtheilen darf, wie viele Mathematiker sich mit dem best. Probleme
früher
erfolglos beschäftigt haben, so verdient sein Beweis
für die „Endlichkeit des
Formensystems“ das allerhöchste Lob. Schon seine
Dissertation zeugt von
durchaus selbständigen Gedanken, er ist durchaus einen eigenen
Weg bei Bearbeitung des betr. Themas gegangen; ebenso seine
Habilitationsschrift, in der es ihm gelang eine Reihe scheinbar ganz
verschiedener Probleme der Algebra unter einem einzigen Gesichtspunkte
zusammen
zu fassen. Alle seine Arbeiten sind, glaube ich, durch grosse
Präcision
ausgezeichnet. So sehr ich ihm eine feste Stellung wünsche,
würde ich seinen
Verlust doch in jeder Beziehung schmerzlich empfinden. Geboren ist er
am 23.
Jan. 62. Näheres über die Arbeiten im Einzelnen
theile ich gerne mit. Vor einem
oder zwei Jahren war er auch in Tübingen an 2ter
Stelle für ein
Extraordinariat vorgeschlagen; gleichzeitig auch in Rostock
für eine neu zu
begründende aber noch nicht bewilligte Stelle.
In
diesem Sommer, wo mir eine ausserordentliche Einnahme zu Gebote stand,
habe ich
mit Frau einmal Freiburg und die Schweiz,Tyrol etc. wieder
besucht. Es war meine
Absicht, auf der Rückreise in Würzburg vorzusprechen.
Leider wurden wir von
Berchtesgaden durch das herrliche Wetter bis in den October gefesselt,
nachher in München durch die mannigfachen Beziehungen meiner
Frau so lange
aufgehalten, dass ich letztere dort zurücklassen und
direct nach hier
zurückkehren musste. So bin
ich wieder um das Vergnügen gekommen, Würzburg zu
besuchen. Von Freiburg aus
erlaubten mir das meine elenden Gehalts-Verhältnisse nicht
(ich hatte nur 2300
M als Ordinarius!). – Mit der Bitte mich Ihrer Frau Gemahlin
zu empfehlen
bleibe ich mit collegialem Grusse
der Ihrige
F.
Lindemann
Meine
Bearbeitung der "Raumgeometrie" (II. Bd. 1.
Th.) ist
fertig und wird in 14 Tagen ausgegeben.
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